FiF-Forum 2020 mit Birger P. Priddat am 28.10.2020

Thema: Über die Erfindung der Kreativität im Kapitalismus

28.10.2020 18:00-20:00 von

Wann: 28.10.2020, 18 Uhr

Wo: Zoom-Meeting

Das alte bürgerliche Ideal der Muße hatte Marx, Keynes und Russell dazu ermuntert, über die Abschaffung der Arbeit zu reflektieren. Doch wandelt sich das Muße-Ideal in die Praxis der Freizeit (inklusive der Arbeitszeitverkürzungen), einhergehend mit dem Aufschwung der Konsumkultur. Die Kompensation der Arbeitsmühen durch gesteigerten Konsum wandelt sich gerade in eine Agilitätsprüfung der Arbeit selber, die in der Wissensgesellschaft in Kreativität transformiert wird. Das geht soweit, dass Arbeit unternehmerisch interpretiert wird (als „creative Entrepreneurship“). Ist das die – in den 70er Jahren versprochene, aber nicht eingehaltene – Humanisierung der Arbeit, die die Philosophin Elizabeth Anderson aus einem anderen Grund einfordert: wegen der einzigartigen gesellschaftlichen Tatsache, dass in Unternehmen noch private Herrschaft ausgeübt wird?

Rückblick

Der Konnex von Kreativität und Kapitalismus versteht sich durchaus nicht von selbst. Vielfach wurden Kreativität und Kapitalismus geradezu als Gegensätze gesehen. Muße als Voraussetzung wahrer Freiheit ist ein antikes, auf Aristoteles zurückgehendes Ideal, an das noch Karl Marx, vermittelt durch Friedrich Schiller, anknüpfen konnte, wenn er in den „Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie“ die kommunistische Gesellschaft als Muße-Gesellschaft beschreibt. Muße versteht Marx dabei als Vervollkommnung, Bildung zur Person. Sie ist nicht Nicht-Arbeit, sondern „höhere Tätigkeit“. Als Befreiung von der Notwendigkeit der Arbeit gilt Muße als Voraussetzung für das bürgerschaftliche politische Leben, die durch Muße erworbene Bildung somit als Bedingung der Möglichkeit, Gesellschaft zu gestalten. Freiheit zu Muße und Kreativität setzt die Befreiung von (Erwerbs-)Arbeit voraus.

Bemerkenswerte Analogien zu diesen Marxschen Ideen, obwohl eigentlich gegen den zeitgenössischen Sozialismus gerichtet, finden sich in einem Vortrag von Lord Keynes aus dem Jahre 1929. Keynes rechnet mit dem Ende des Kapitalismus um 2030, dann werde jeder, von Arbeit befreit, kreativ tätig sein können. Die post-kapitalistische Ökonomie à la Keynes ist eine „ästhetische Ökonomie“ der schönen Künste und des schönen Lebens. Wenig später wird Bertrand Russell, ähnlich wie Keynes, Kreativität als Höchstform der bürgerlichen Entwicklung darstellen: Der technische Fortschritt sei, so Russell, so weit fortgeschritten, dass alle Menschen mehr Freizeit und Müßiggang erwarten könnten, frei vom Zwang, sich damit sein Einkommen zu sichern.

Mit einem derart unpolitischen Verständnis von Muße und Kreativität wird indes eine Entwicklung befördert, die bis heute anhält. Freie Zeit wird nicht, wie noch bei Marx, begriffen als freie Zeit zur Bildung, sondern als „Freizeit“ zum Konsumieren. Mit anderen Worten, die freie Zeit ist kein Bildungsereignis mehr, sondern öffnet sich, besonders seit den 1950er Jahren, der Konsumkultur. Wie kommt unter diesen Vorzeichen Kreativität ins Spiel? Was bedeutet sie (noch)?

Wo sich die Zeitökonomie der Muße, einseitig effizienzorientiert, nur noch als Optimierung der Selbstausbeutung spiegelt, gerät Kreativität tatsächlich in die Nähe des Zwangs. Kreativität wird nachgerade zum Imperativ, dem sich jeder ausgesetzt sieht. Kreativität erscheint jedoch nicht (mehr) als losgelöst von den funktionalen Zwängen der Arbeit. Sie wird Kreativität der Arbeit, nicht Befreiung von Arbeit. Dabei ist es durchaus zweifelhaft, ob jeder mit freier Zeit etwas anzufangen weiß, die ihm bedingungslos gegeben werden soll, wenn es nach den Verfechtern eines bedingungslosen Grundeinkommens gehen soll, über das seit geraumer Zeit kontrovers diskutiert wird. Als Imperativ zur Selbstoptimierung mißverstandene Kreativität erweist sich als Selbstüberforderung des hypermodernen Individuums. Nicht das freie Spiel ist dann (wie noch in der Tradition Schillers) das Signum von Kreativität, sondern Streß. Und freie Zeit dient nicht der Kreativität (wie noch bei Marx), sondern (wie bei Lafargue) der Faulheit und dem Nichtstun.

Literatur:

Priddat, Birger P. (2019): Arbeit und Muße: Luther, Schiller, Marx, Weber, Lafargue, Keynes, Russell, Marcuse, Precht. Über eine europäische Hoffnung der Verwandlung von Arbeit in höhere Tätigkeit, Weimar: Metropolis Verlag.

Webseite: www.priddat.de

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