Stecker, Christian

Politikwissenschaft | Von sozial verzerrter Beteiligung, Stadt-Land-Konflikten und Koalitionskorsetten. Einblicke aus der hessischen Landtagswahl | Vortrag am 17.01.2024

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Die Herausforderung

Im Blick auf die hessische Landtagswahl 2023 stellen sich aus politikwissenschaftlicher Sicht verschiedene Fragen: Wie bilden sich urbane und ländliche Interessen im Wahlergebnis ab? Wie ausgeprägt ist die soziale Ungleichheit der Wahlbeteiligung? Welche Optionen gibt es für die Regierungsbildung jenseits von Mehrheitskoalitionen?

Aus dem Vortrag

Die Abbildung oder Vertretung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen in Parlamenten und anderen Institutionen wird als deskriptive Repräsentation bezeichnet. Dies lässt sich statistisch gut untersuchen, beispielsweise anhand des Frauenanteils im hessischen Landtag innerhalb der letzten 30 Jahre. Hierbei zeigt sich trotz steigender Tendenz seit den 1990er Jahren eine Ungleichverteilung des Frauenanteils zwischen Parlament und Bevölkerung. Zwischen den Parteien gibt es dabei indes deutliche Unterschiede. Insgesamt zeigt sich ein eher niedriger Frauenteil bei konservativen Parteien, während eher progressive Parteien einen höheren Frauenanteil aufweisen. Auch die Mitgliederstruktur der Parteien spielt eine Rolle, wie sich bei FDP und AfD zeigt, bei denen der Frauenanteil am niedrigsten ist.

Eine drastische Entwicklung zeigen die Zahlen der Wahlbeteiligung in Abhängigkeit von Alter bzw. sozialer Schicht. Einerseits ist die Wahlbeteiligung unter jüngeren Wählerinnen und Wählern geringer als bei älteren. Andererseits hängt jene auch sehr stark vom Bildungsstand ab. So liegt die Wahlbeteiligung bei Personen ohne Abitur deutlich niedriger als bei Personen mit höherem Bildungsabschluss, wobei man davon ausgehen muss, dass bereits die zugrunde liegenden Umfragedaten verzerrt sind, da Befragte dazu neigen, Antworten zu geben, von denen sie ausgehen, damit auf Zustimmung zu stoßen. Dieses Phänomen ist unter dem Begriff „soziale Erwünschtheit“ bekannt. Diese Situation führt in Verbindung mit der demographischen Entwicklung der Gesellschaft langfristig zu einem Partizipationsproblem – wer als Erstwähler nicht Wählen geht, wird dies tendenziell auch später nicht tun.

Das Wahlverhalten zwischen urbanen Regionen und ländlich geprägten Gebieten wird auch, wie die Daten zu den hessischen Landtagswahlen zeigen, von soziodemographischen und -ökonomischen Merkmalen beeinflusst. Während in Regionen mit geringer Bevölkerungsdichte eher traditionelle ökonomische Strukturen vorherrschen, wird dort auch tendenziell konservativer gewählt. Bei der Landtagswahl 2023 erzielten hier vor allem die AfD und die CDU hohe Stimmenanteile, wobei gerade die AfD bei ihrer Gründung 2013, als vorwiegend europaskeptische Partei, noch ein eher urbanes Milieu ansprach. In Regionen mit hoher Bevölkerungsdichte schnitten hingegen die Grünen, die unter ihren Wählern den höchsten Anteil an Akademikern aufweisen, vergleichsweise gut ab. Dies korreliert mit dem höheren Anteil von Personen mit Hochschulabschluss in Städten.

Insgesamt zeigt sich eine starke Polarisierung zwischen den Anhängern der AfD und den Grünen. Besonders deutlich wird dies im Abstimmungsverhalten zur Volksabstimmung über die Änderung der hessischen Verfassung, welche 2018 parallel zur Landtagswahl stattfand. Dabei ging es unter anderem um die Streichung der Todesstrafe aus der hessischen Landesverfassung. Hierbei zeigte sich die höchste Ablehnung gegenüber der Abschaffung des entsprechenden Artikels unter Anhängern der AfD, während Anhänger der Grünen die Streichung der Todesstrafe am stärksten befürworteten.

Eine alternative Perspektive für die Politik in Deutschland, die dazu neigt, möglichst Mehrheitskoalitionen – unter Ausschluss der Opposition – einzugehen, könnte die Nutzung wechselnder parlamentarischer Mehrheiten anstelle eines „Koalitionskorsetts“ bieten. Eine flexiblere Mehrheitsbildung könnte den Parteien mehr politischen Spielraum eröffnen als Koalitionen. Sie könnte auch von Vorteil für die Demokratie sein.

Perspektiven

Demographische Entwicklungen und Repräsentationsprobleme fordern die Demokratie heraus, was sich auch anhand der hessischen Landtagswahl 2023 zeigt. Neue Modelle zur Mehrheitsfindung könnten dabei helfen, den politischen Handlungsspielraum zu vergrößern, insbesondere dann, falls das Mehrheitskoalitionssystem durch eine weitere Fragmentierung der Parteienlandschaft unter Druck gerät. Gleichzeitig sind weitere Schritte notwendig, um Politikverdrossenheit entgegenzuwirken und die politische Partizipation aller gesellschaftlichen Gruppen zu fördern. Ein mögliches Instrument hierfür könnten etwa geloste, sogenannte „Bürgerräte“ auf kommunaler Ebene sein, die Politik unmittelbar erfahrbar machen.